Hintergrund: Ägyptens stille Macht an der Gaza-Grenze
- Monika Bremer
- 11. Apr.
- 7 Min. Lesezeit
Seit drei Wochen bin ich aus Tel Aviv und Israel zurück und ich hätte zig Geschichten zu erzählen, Berichte zu schreiben und Hintergründe aufzuzeigen. Anfangs habe ich hier in Kairo noch versucht, über meine Reise ins Gespräch zu kommen. Doch inzwischen fühle ich mich genauso hilflos und alleine mit dem Thema, wie zuletzt im Oktober 2023. Ich möchte keinen Versuch unternehmen, Netanyahu zu verteidigen oder das unverhältnismäßige Vorgehen Israels im Gazastreifen schönzureden oder zu rechtfertigen. Aber wie jedes andere Land auch, besteht Israel nicht nur aus der Regierung. Das Land ist emotional so aufgeladen und voller Kontroversitäten, dass sich inzwischen immer wieder der Begriff „Bürgerkrieg in Israel" in die Medien verirrt.
Tel Aviv ist eine wundervolle Stadt

Meine Zeit in Tel Aviv, in Jaffa, in Haifa und in Jerusalem war großartig. Ok, Jerusalem fand ich nicht ganz so toll. Aber es heißt ja, man müsse sich entscheiden, ob man Jerusalemer oder eher Tel Aviver wäre, und ich bin definitiv Tel Aviver. Im Vergleich zu Kairo ist mir vor allem aufgefallen, dass die meisten Menschen in Ägypten eher existieren als zu leben. Vergleicht man beispielsweise die Stadtstrände am Mittelmeer, Alexandria und Tel Aviv, dann ist Alexandria verbaut, unzugänglich und nicht wirklich attraktiv. In Tel Aviv sind die Strände offen, an der Corniche wird gejoggt, Rad gefahren, am Strand wird im Café gesessen, Bier getrunken, in der Sonne gelegen, im Wasser wird geschwommen, gesegelt, gesurft. Die schicken und hochpreisigen Apartments mussten hinter die Corniche rücken. Es ist möglich, von Tel Aviv bis Jaffa gemütlich am Strand entlang zu laufen. Ich brauche so ein Thema hier aber gar nicht anzusprechen, denn es heißt gleich beispielsweise „Ja aber die haben ja auch Geld" mit der dann bald folgenden Beschimpfung über die USA und die reichen Juden. Das, was Alexandria in den letzten Jahren in die Wellenbrecher investiert hat, hätte man aber auch besser verwenden und den Strand als Lebensraum für die Ägypter ansprechender gestalten können. Der Wille, daran auch nur einen Gedanken zu verschwenden, fehlt mir hier oft völlig.
Es besteht in diesem Land ein flächendeckender Hass gegen Israel, ohne, dass die Geschichte studiert oder Hintergründe reflektiert werden. Ich war vor Ort und habe mit vielen Menschen gesprochen. Viele Israelis haben ein großes Problem mit den konservativen Siedlern und ihrem Vorgehen im Westjordanland. Und ich war mit dabei, als wir gegen Krieg und somit für Frieden und gegen die Vorgehensweise in Gaza protestiert haben. Aber die Demos riefen auch dazu auf, die aus Israel Verschleppten freizulassen. Ich war am Hostages Square und traf Menschen, deren Freunde am 7. Oktober 23 getötet wurden. Vor dem Museum für Moderne Kunst in Tel Aviv steht ein Mahnmal mit 251 Spiegeln. Mit der leisen Mahnung „Auch Du hättest unter den 251 Verschleppten sein können".
Wenn ich hier in Kairo dann höre, das wären ja sowieso fast alles nur Soldaten und das Nova-Musik-Festival eine absichtliche Provokation für Gaza gewesen, dann fehlen mir die Worte. Es mag ja sein, dass der Geheimdienst mehr wusste, als er zugibt. Aber so ein ungefilterter Hass und so eine Wut auf Israel erschreckt mich zutiefst. Leider muss ich auch erleben, dass dieser Hass nicht nur auf Ägypten beschränkt ist. Selbst in unserer Festival-Promoter-Gruppe wird von Menschen, die höchstwahrscheinlich noch nie in unserer Region gewesen sind, der israelische Promoter ausgegrenzt. Noch nicht einmal dort wird das Menschsein und die Musik über die Verbrechen der Regierung gestellt. Und Länder wie Ungarn oder Belgien weigern sich, Netanyahu festzunehmen und vor Gericht zu stellen. Was also soll ich dann von den Ägyptern erwarten?
Dennoch halte ich es für angebracht, die Situation und Handlungsweise Ägyptens bezüglich Gaza einmal näher zu betrachten. Dazu gehört jedoch, zunächst einen ganz kurzen Blick auf die Geschichte zu werfen.
Palästina war nie ein souveräner Staat
Palästina war stets ein Teil übergeordneter Herrschaftssysteme. Unter dem Osmanischen Reich war die Region zwischen 1517 und 1917 in verschiedene Provinzen eingegliedert und wurde zentral verwaltet. Davor gehörte Palästina zum Sultanat der Mamluken, das seine Hauptstadt in Kairo hatte. Eine eigenständige politische Struktur bestand nicht, weder unter den Mamluken noch im Osmanischen Reich. Lokale palästinensische Angelegenheiten lagen teils in den Händen religiöser Führer oder städtischer Notabeln. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm Großbritannien das Gebiet als Völkerbundmandat – ebenfalls, ohne Palästina in die staatliche Unabhängigkeit zu führen.
Die meisten Bewohner des heutigen Israels sind die Nachkommen der damaligen Einwanderer und dort geboren

Die jüdische Einwanderung hatte bereits im späten 19. Jahrhundert begonnen, zunächst in kleinem Umfang, zum Teil mit Zustimmung der osmanischen Behörden, später intensiver und organisatorisch unterstützt, vor allem unter britischer Schirmherrschaft. Die Balfour-Erklärung von 1917 war ein Wendepunkt: Großbritannien erklärte sich darin bereit, die Errichtung einer „Nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ zu unterstützen. Die arabische Bevölkerung lehnte dies mehrheitlich ab.
Ein palästinensischer Staat wurde auch im Zuge des UN-Teilungsplans von 1947 nicht realisiert – nicht zuletzt wegen der Zersplitterung innerhalb der palästinensischen Führung und arabischer Ablehnung. Damit blieb die Region zwischen kolonialer Kontrolle, aufkommenden nationalen Bewegungen und internationalem Machtpoker zerrieben – ohne jemals die Chance gehabt zu haben, sich selbstbestimmt zu etablieren.
Seit 1947 war das Verhältnis zwischen Israel und Ägypten lange von Feindschaft geprägt. Ägypten beteiligte sich an mehreren Kriegen gegen Israel (1948, 1956, 1967, 1973). Nach dem Jom-Kippur-Krieg kam es 1979 zum historischen Friedensvertrag unter Präsident Sadat. Ägypten war das erste arabische Land, das Israel offiziell anerkannte. Seither besteht ein fragiler Frieden. Er ist diplomatisch stabil, aber auf Bevölkerungsebene bis heute von Misstrauen und politischer Distanz geprägt.
Ägypten und Gaza heute: Zwischen politischer Inszenierung und faktischer Mitverantwortung
Seit dem Aufflammen des Krieges im Gazastreifen im Oktober 2023 rückt Ägypten in den Fokus internationaler Diplomatie. Die Regierung in Kairo präsentiert sich als Mittler, empfängt Delegationen, appelliert an die humanitäre Vernunft und warnt öffentlich vor einer Eskalation, die über die Region hinausreichen könnte. Präsident Abdel Fattah al-Sisi spricht von zivilen Opfern und von der Notwendigkeit humanitärer Korridore. Doch jenseits dieser Rhetorik agiert Ägypten zurückhaltend und strategisch. Wer genauer hinschaut, erkennt: Das Land ist nicht nur Beobachter oder Vermittler. Es ist ein aktiver Akteur, dessen Verhalten wesentlich zur aktuellen Lage beiträgt.
Rafah – das Nadelöhr mit politischem Gewicht
Der südliche Grenzübergang Rafah ist Gazas einziges offizielles Tor zur arabischen Welt. Seit der Machtübernahme der Hamas im Jahr 2007 unterliegt dieser Übergang ägyptischer Kontrolle und wird bis heute äußerst restriktiv gehandhabt. Auch in der aktuellen Kriegsphase blieb die Grenze über Wochen geschlossen. Erst auf internationalen Druck hin wurden zeitweise ausgewählte Personen und begrenzte Hilfslieferungen durchgelassen¹.
Ägyptens Regierung verweist regelmäßig auf Sicherheitsrisiken in der angrenzenden Sinai-Region, wo seit Jahren militante Gruppen aktiv sind. Doch diese Begründung allein erklärt nicht, warum humanitäre Hilfe nur schleppend eintrifft und warum der Zugang für internationale Organisationen stark eingeschränkt bleibt. Erst in der vergangenen Woche haben Ägypter in Rafah für eine Öffnung der Grenze protestiert. Tatsächlich nutzt Kairo die Grenzpolitik auch als Mittel der Kontrolle über Gaza, über die Hamas, und über die eigene außenpolitische Rolle.
Die ideologische Bruchlinie zur Hamas
Ein zentrales Element in Ägyptens Gaza-Politik ist die tiefe Ablehnung der Hamas, die aus der Muslimbruderschaft hervorging. Die Muslimbruderschaft ist jene Bewegung, die Präsident al-Sisi nach seinem Amtsantritt als Terrororganisation einstufte und massiv unterdrückte. Die Nähe der Hamas zu islamistischen Netzwerken macht sie für Kairo zu einem Sicherheitsfaktor - aber vor allem zu einem politischen Gegner².
Entsprechend hart agierte Ägypten in den letzten Jahren auch gegen die Infrastruktur der Hamas. Hunderte unterirdische Tunnel, über die jahrelang Güter, Baumaterial und Medikamente nach Gaza geschmuggelt wurden, ließ die ägyptische Armee zerstören. Das war nicht nur eine Maßnahme gegen Waffenhandel, sondern ein gezielter Schlag gegen die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Enklave in Gaza³. Diplomatisch verfolgt Ägypten eine Linie der Distanz. Es finden Gespräche statt, aber stets auf Basis strategischer Notwendigkeit. Eine partnerschaftliche Nähe lässt sich nur schwer erkennen.
Humanitäre Rhetorik und reale Abschottung
Gleichzeitig inszeniert sich Kairo auf internationaler Bühne als moralischer Akteur. Beim Friedensgipfel im Oktober 2023 kritisierte Präsident Sisi offen das Vorgehen Israels und forderte eine sofortige Waffenruhe. Er sprach von unhaltbaren Zuständen in Gaza und vom Leid der Zivilbevölkerung⁴.
Doch während Worte und Bilder eine klare Haltung suggerieren, spricht die Praxis eine andere Sprache. Ägypten lehnt bislang die Aufnahme größerer Flüchtlingsgruppen aus Gaza ab. Vielmehr ließ die Regierung in den vergangenen Monaten eine Sicherheitszone auf der eigenen Seite der Grenze einrichten - eine Pufferzone, die vor allem eines verhindern soll – eine unkontrollierte Bewegung von Menschen⁵. Auch der Zugang für Hilfsorganisationen bleibt bürokratisch verlangsamt, teils politisch motiviert beschränkt⁶.
Ein Partner mit Eigeninteressen
Ägyptens Verhalten in der Gaza-Krise ist kein Ausdruck von Gleichgültigkeit, sondern von kalkulierter Interessenpolitik. Innenpolitisch dient die harte Haltung gegen Hamas als Fortsetzung der Repression gegen die Muslimbruderschaft. Außenpolitisch inszeniert sich Kairo als unverzichtbarer Gesprächspartner – sowohl für Israel als auch für westliche Staaten. Die humanitäre Karte spielt Ägypten, wenn es geopolitisch nützlich ist.
Dabei bleibt die Grenze zu Gaza ein machtvolles Instrument: Sie ist mal geschlossen, mal halb geöffnet, je nachdem, wie sich diplomatische Konstellationen entwickeln. Für die Menschen in Gaza aber ist Rafah kein Tor zur Welt, sondern oft ein Symbol für Blockade, Kontrolle und politische Interessen, die über ihr Schicksal hinweg regieren.
Ich bin aus Tel Aviv zurückgekehrt mit Eindrücken, die sich schwer vermitteln lassen – und mit der Erfahrung, dass in Israel viele Menschen leben, die sich ihrer Geschichte bewusst sind, obwohl sie sie selbst nicht verursacht haben. In Tel Aviv habe ich Menschen getroffen, die sich gegen Krieg stellen, die Kritik üben, die sich fragen, wie es weitergehen kann. Diese Stimmen fehlen mir oft in der öffentlichen Wahrnehmung – hier in Kairo genauso wie anderswo. Ich kann keine Antworten auf die großen Konflikte geben, aber ich kann eine Perspektive teilen, die differenziert, ohne zu relativieren. Und daran erinnern, dass jedes Land mehr ist als seine Regierung.
Quellenverzeichnis
Middle East Eye, „Egypt agrees Israeli control of Gaza border in return for Rafah reopening“, Mai 2024.https://www.middleeasteye.net/news/egypt-agrees-israeli-control-gaza-border-return-rafah-reopening
Foreign Policy, „Egypt’s War on the Muslim Brotherhood Is Far From Over“, August 2023.https://foreignpolicy.com/2023/08/30/egypt-sisi-muslim-brotherhood-history-repression-nationalism-democracy-opposition
Middle East Eye, „Egypt's army destroyed more than 2,000 Gaza tunnels“, Mai 2024.https://www.middleeasteye.net/news/egypt-army-leak-destruction-gaza-tunnels-rafah
Al Jazeera, „Egypt hosts peace summit on Gaza amid mounting civilian toll“, 21. Oktober 2023.https://www.aljazeera.com/news/2023/10/21/egypt-holds-summit-on-gaza-urging-international-intervention
Al-Monitor, „Egypt expands buffer zone to prevent Gaza refugee influx“, November 2023.https://www.al-monitor.com/originals/2023/11/egypt-strengthens-border-gaza-prevent-refugee-influx
MSF, „Egypt’s red tape delaying Gaza aid“, Stellungnahme von Ärzte ohne Grenzen, Dezember 2023.https://www.msf.org
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